Dieser Text entstammt einem Artikel, den ich für das Aikido-Journal (Ausgabe 3/1999) schrieb.

Klettern und Aikido

Vor ein paar Jahren sagte mir eine Aikido-Freundin: »Klettern und Aikido ist fast das Gleiche«. Damals schien mir diese Idee absurd, inzwischen denke ich, sie hat beinahe recht.

Zum Begriff: Free Climbing ist freies Klettern ohne Hilfsmittel. Material (Seil, Haken, etc) wird ausschliesslich zur Sicherung im Fall eines Sturzes verwendet, nicht zum Klettern. Das Ziel ist selten ein Gipfel (das wäre Bergsteigen), sondern eine möglichst schwierige Wand auf einem bestimmten Weg zu erklimmen.

Sowohl Aikido wie Klettern...

  • sind potentiell existentiell: Fehler können, ernsthaft betrachtet, final sein;
  • verlangen volle Konzentration auf die Situation (mein Gegner/Partner und ich, die Wand und ich), alles darum herum tritt zurück;
  • müssen locker angegangen werden, übertriebene Anspannung führt zu Fehlern;
  • verlangen und schulen innere Balance (Angst gilt es zu überwinden und Gleichmut zu finden);
  • ebenso wie äusseres, körperliches Gleichgewicht als Schlüsselfähigkeiten;
  • trainieren Grundmuskulatur und Koordination am ganzen Körper;
  • leben vom gezielten Wechsel zwischen völliger Entspannung und höchster Körperspannung;
  • erfordern saubere Techniken und präzise Bewegungen;
  • sind minimalistisch im Materialbedarf – sind keine Wettkampfsportarten (zwar gibt es indoor-Meisterschaften, aber mein Eindruck ist, die erfreuen mehr die Hallenbetreiber als die Kletterer).

Es gibt auch Unterschiede:

  • Hinter dem Aikido steht (bei allen Auslegungs- unterschieden) eine einigermassen geschlossene und anerkannte Philosophie, die ebenso Lernziel ist wie die körperliche Seite, Kletterer basteln sich jede/r seine/ihre eigene Vorstellung der Welt, häufig naturnah.
  • Mit wachsendem Können wird Aikido immer dynamischer. Free Climbing ist weitgehend statisch. Ein »Dynamo« im Klettern ist eine schnelle Bewegung, zumeist das Anspringen des nächsten Griffs, und gilt als Notlösung.
  • Aikido trainiert die Ausdauer, Klettern ist kurzzeitig kraftbetont.
  • Trotz des grundsätzlichen Höhenrisikos ist Klettern weniger verletzungsträchtig als Aikido. Wenn schwere Unfälle passieren sind die meist auf falsche Materialhandhabung, Leichtsinn, Unkenntnis oder Selbstüberschätzung zurückzuführen.

1993 begann ich mit dem Aikido, fast 2 m gross, schwer und Grobmotoriker. Trotz mehrerer Verletzungspausen kannte meine Begeisterung kaum Grenzen. Vor 2 Jahren traf ich Jenni Härtig wieder, die meinen ersten grossen Lehrgang geleitet hatte; sie meinte, ich hätte ja wirklich was gelernt und dass sie nicht erwartet hätte, dass ich dabei bleibe. Vor einem Jahr, während der Vorbereitung auf den 2. Kyu, warf mich eine erneute Verletzungsserie (Motorradstürze, etc.) völlig aus dem Training, erst jetzt könnte ich wieder ernsthaft trainieren.

Vor drei Jahren lud mich ein Freund in Andalusien zum Klettern ein: Das erste Mal war schrecklich, falsche Schuhe, völlige Überlastung der Arme (bloss festhalten!), ich fühlte mich am Seil mehr als unwohl. Doch ich spürte, das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen, ich versuchte es wieder, mit rasch steigender Faszination. Im letzten Jahr konnte ich dadurch trotz meiner vielen Prellungen und Zerrungen weiter Sport zu treiben: Wenn eine bestimmte Bewegung, eine Belastung nicht geht, suche ich nach einer anderen Lösung oder verzichte einfach auf die Route, so kann der Körper ausheilen, ohne zu »vergammeln«. Beim Aikido, so meine Erfahrungen, brechen Verletzungen immer wieder auf, weil man zu zweit arbeitet: Ah, der ist gross und schwer, da brauche ich Kraft, denken sich meine Partner oft, vor allem unbekannte Partner. Und zack, wird herumgezerrt, zack, ist die Verletzung wieder da. Leider, trotz aller vielbetonten Harmonie.

Klettern bietet mir persönlich gegenüber dem Aikido ein paar Riesenvorteile: Ich muss nicht in einer stickigen Halle zu festen Terminen erscheinen, sondern kann individualistisch meiner Outdoor-Leidenschaft frönen, wann mir danach ist (und es nicht regnet). Outdoor Klettern spricht meine Rätselleidenschaft an: Wie löse ich diese Route, wo ist der nächste Halt, wie muss ich ihn greifen, welches winzige Käntchen reicht, um drauf zu stehen?

Mit meinen 96 kg bei 196 cm bin ich zwar zu schwer, um jemals wirklich gut zu werden, aber den 7. Grad gehe ich dieses Jahr an, meinen ersten Vorstieg im 7. habe ich bereits geschafft.

Steht zu befürchten, dass Jenni am Ende doch noch recht hat und ich fürs Aikido vorerst verloren bin ... wenn auch (hoffentlich) nicht für immer. Das Aikido hat mir viel gegeben, für immer aufgeben möchte ich es nicht, mich nur für eine Weile umorientieren.