Mountain Bike

20km Westerwald liegen vor mir. Mittelgebirge, rauf und runter, zum Glück mehr runter, rauf gefahren bin ich gestern schon, eine Party bei Freunden besucht, lange ausgeschlafen, in der Sonne auf der Terrasse gut gefrühstückt, auf der Karte die grobe Richtung abgesteckt, erst eine ganze Zeit genau nach Süden, dann abbiegen zum Rhein. Jetzt voller Tatendrang, Rucksack aufgeschnallt, mich von meinen Freunden verabschiedet, auf geht's!

Noch im Ort die erste Steigung, ich hetze einem bunt ausstaffierten Straßenradrennfahrer hinterher, um ihn nach dem Weg zu fragen, aber er kennt nur die asphaltierten Straßen, weiß nichts von Waldwegen, die zu meinem Ziel führen, zurück nach Koblenz. Die Standardroute kennt er, die ich gestern hochkam, aber die will ich nicht, die ist mir heute nicht schön und aufregend genug. Wenn ich schon hier oben bin und ein zwei oder drei hundert Höhenmeter zu verschwenden habe, will ich es genießen, quer durch den Wald. Ganz schön anstrengend, so ein Bergan-Sprint gleich zu Anfang, ich lasse ihn ziehen und fahre mich lieber langsam warm. Über die Autobahn, und dann beginnt der schöne Teil.

Hinein in den Wald, ein gut gepflegter Weg mit bestem Schotter, fast zu glatt noch für meinen Geschmack, aber am Rand erfreuen mich Massen von Himbeeren, frisch und reif und lecker. Zwei, drei kurze, genußreiche Stops, ich mampfe die süßen Früchte in mich hinein, während ich mich diesen gut ausgebauten Waldweg hinaufkämpfe, noch zweihundert Höhenmeter dazugewinne, bevor die Abfahrt startet. Nach zwei Wochen Depri-Wetter ist's endlich wieder warm, die Sonne wärmt mir den Pelz und auf meinen Armen beginnt der Schweiß zu glänzen. Sie ist mein Wegweiser, ich will nach Süden, es ist Mittag, also immer der Sonne entgegen und später ein paar Grad rechts halten. Wer braucht schon Landkarten?

Ich treffe auf einen asphaltierten Weg, geradeaus Schußfahrt ins Tal, doch das wird mir bald zu langweilig. Links zweigt ein Weg ab, er stellt sich als Begleitpfad zum Limes heraus, den Überresten dieses alten Grenzwalls gegen die Barbaren. Ich folge ihm eine Weile, dann Abzweig nach rechts, Abzweig nach links, immer kleinere Wege suche ich mir aus, erst noch zweispurig befahrbar, dann einen Trimm-Dich-Pfad, schließlich einen steil hinabführenden Knüppeldamm, auf dem die Reifen immer wieder ausbrechen wollen, alles in hohem Tempo, das Adrenalin rauscht durch Kopf und Körper und peitscht mich voran. Den Gedanken, daß man so etwas nur zu zweit machen sollte, damit ggf. einer Hilfe holen kann, schiebe ich so schnell wieder beiseite, wie er mich überfällt. Meine Sinne sind wie betäubt und hellwach zugleich, fokussiert auf die Raserei; als ich anhalte, schaue ich einem einzelnen Blatt zu, wie es langsam aus den Baumkronen zu Boden schaukelt. Adlergleicher Blick, extremer Zoom voraus, durch Konzentration geschärft; wie betäubt dennoch, der periphere Blick auf den weitaus größten Teil meines Sichtfeldes ausgedehnt. Die Krönung ist im Tal ein Trampelpfad durch die hohe Wiese, links und rechts schlagen mir die Brennesseln und Disteln auf die Hände, dann eine Furt durch ein Bächlein, und auf der anderen Seite wieder hoch.

Den Bach entlang ein langer Anstieg, der immer steiler wird, ab und zu liegt ein Baum quer, die einzigen sichtbaren Spuren stammen von anderen Mountain Bikes, motorisierte Fahrzeuge oder gar Forstgerät sind hier lange nicht mehr gefahren. Sonne flirrt durch die Baumkronen, ich höre nur noch gelegentliche Vögel und mein eigenes Schnaufen, bin schweißgebadet, trage das Rad über Baumstämme oder winde mich unterdurch. Weiter hinan, weiter voran! Endorphin! Rauschhaft geweitet die Sinne! Eine Kreuzung, sonnenbeschienen, ich werfe das Fahrrad hin, puste mich aus.

Wieder solo bin ich seit ein paar Tagen, vermisse Dich, wäre gerne mit Dir hier, und weiß doch, Du wärest nie mitgekommen auf diesen Trip, es ist nicht Deiner. Gut, daß Du uns aufgekündigt hast, wie befreit fühle auch ich mich, eine Riesenlast von mir genommen, zu verschieden unsere Welten und Vorlieben und Bedürfnisse, zu tief und breit die Schlucht, sie immer wieder neu zu überspannen, und doch, ich vermisse Dich, bin traurig, daß wir einander nicht geben konnte, wessen wir bedurften. Zu schön doch die Momente, wenn es uns gelang, zu innig und wild zugleich, als daß ich Dich vergessen wollte oder auch nur leichten Herzens gehen ließ. Das Blitzen in Deinen Augen, Dein Lachen, wenn Du Dir nahmst, was Du wolltest, wie habe ich es genossen! Wie habe ich Dich genossen, an unseren guten Tagen!

Genug der Pause, genug der Gedanken, ich liege, sitze auf dem Waldboden, noch ein wenig feucht vom vielen Regen der vergangenen Wochen, und doch schon ganz warm von der Sonne, die wieder Kraft gewonnen, die Walddüfte provoziert, die meine Nase kitzelt; ich trinke in großen Zügen aus meiner Flasche, lausche den Insekten, bin außer Puste, mein Hintern schmerzt vom harten Sattel, und ich fühle mich pudelwohl. Auf geht's, weiter, so steil jetzt, daß das Hinterrad die Traktion verliert, keinen Grip mehr findet, es im kleinen Gang nur noch durchdreht und ich im großen Gang keine Chance auf Fortkommen habe. Schieben also, vielleicht hundert Meter weit, bis zum Gipfel, bis ich an eine parkähnliche Anlage komme.

Weit auseinanderstehende Bäume, Parkbänke mittendrin, kleine Schilder an den Bäumen, allerdings kein Rasen, sondern nur eine grob gemähte Unkrautwiese. Ein großes Schild klärt auf, nein, kein Friedhof, sondern:

 

Arboretum des Forstamtes Neuhäusel
120 Baumarten aus aller Welt
wurden von 1963 - 1970 gepflanzt
von der Forstbaumschule Pein & Pein
Besucher, bitte schütze uns!

 

Sie hat etwas sehr eigenes, diese kleine, nachlässige gepflegte Anlage mitten im Wald. Ich will gerade quer drüber fahren, mir den einen oder anderen Baum anschauen, da fällt mir ein weiteres, viel kleineres Schild ins Auge:

 

Fußweg
Bitte nicht Radfahren!
Danke, Ihr Forstamt Neuhäusel

Hmpf! Das wäre doch ...

* * *

Switch!

* * *

Du schaust mich an. Stehst nur einen Meter neben mir, Fahrrad an Dich gelehnt. Zeigst auf einen großen Baum mit glatter Rinde, sagst "Laß uns dorthin gehen!" Faßt nach meiner Hand. Dieses Grinsen in Deinen Augen, wie ich es liebe, den Mutwillen, die Lust, die Verheißung.

Hand in Hand gehen wir durch das knöcheltiefe Gewucher, schieben die Fahrräder neben uns her. Genüßlich lehnst Du Dich an den Baum, ziehst mich an Dich. Da ist er wieder, dieser Sog, um solcher Momente willen haben wir einander geliebt, die Welt verschwindet, ist in uns, wir sind das Universum.

 

 


(c) Stephan Eichenlaub, Juli 2000

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